Er öffnete die Augen. Schmerzen. Hatte er geschlafen? Nein, er war kurz bewusstlos. Mann, tat das weh! „Wo bin ich?“. Alles, was er sah und hörte, war irgendwie falsch. Er zwang sich, seine Sinne zu schärfen, zu verstehen, was er sah.
Jetzt erkannte er: Alles war verkehrt herum. Wer macht denn so was? Dieses eierige Quietschen im Hintergrund, wie eine langsame, alte Schubkarre, sorgte zusätzlich dafür, dass seine wahnsinnigen Kopfschmerzen zu pochen anfingen. Nach und nach nahm er seine nähere Umgebung wahr und nun fiel ihm alles wieder ein: Der Zug kam doch.
Er saß in seinem Auto, angeschnallt im Fahrersitz. Aber das Auto stand nicht einfach auf der Straße, sondern auf Grund der vielen Blümchen und Halme um ihn herum musste es daneben im Gras liegen, und zwar auf dem Dach. Er hing in seinem Gurt. Verdammter Zug!
Und diese Schmerzen. Auf keinen Fall wollte er genauer wissen, was ihm die fiesen Stiche in den Beinen verursachte. So lange man es nicht genau weiß, kann man immer noch das Beste hoffen, richtig? Oh, ah, war da nicht ein blinkender blauer Schein? Ja!, und er kam immer näher! Er hörte bald das schroffe Bremsen von groben Reifen auf feinem Schotter. Nach einer ewigen Ewigkeit, in der er nur ein emsiges Treiben in naher Ferne wahrnahm, beugte sich plötzlich ein Gesicht vor das Seitenfenster seiner Tür. Gerettet!
„Hallo“ sagte der Kopf, „Wie geht es ihnen?“
Ihm kam die Frage seltsam vor, aber vermutlich gehörte das zur psychologischen Schulung wegen Beruhigen und so. „Ich bin wach, habe aber irre Schmerzen, vor allem in den Beinen, helfen sie mir!“
Der Kopf machte eines von diesen Gesichtern, wie sie meist Pfarrer etc. machen, wenn sie einem vergeben. So sanftmütig und verständnisvoll. Es ging ihm sofort besser, er bekam Hilfe!
„Was ist denn vorgefallen? Halt, lass mich raten: Der Bahnübergang, richtig?“
Vermutlich brauchte er gar nicht versuchen, sich irgend eine Story auszudenken. Abgesehen davon, dass er momentan andere Sorgen hatte als über ein perfektes Alibi zu grübeln, sprachen wohl alle Fakten in seiner Umgebung für sich beziehungsweise gegen ihn.
„Ja, diese blöden Halbschranken. Immer schliessen die, wenn man es gerade gar nicht brauchen kann und dann muss man ewig davor warten, bis mal ein Zug kommt…“
Der Sanitäter war sehr gut darin, ihm ein beruhigendes Gefühl zu vermitteln.
„Und dann hast du dir gedacht, fahr eben noch schnell rüber?“
Leugnen nutzt nichts, das war klar. „Die anderen Male, äh, ups, wer konnte denn ahnen, dass der Zug hier so schnell da war?“
Irgendwie sah es aus, als wenn der Sanitäter es sich da auf dem Boden bequem macht. „Ist dir klar, was du damit angestellt hast?“, fragte er. Mittlerweile hatte er sein Kinn auf seine flachen Hände gestützt, die Ellenbogen zu beiden Seiten ausgestreckt.
„Naja, das Auto ist wohl Schrott, aber ich…“ Nun sollte aber bald seine Rettung losgehen! Dachte er.
„Denk doch auch mal an den Lokführer, was der für einen Schrecken gekriegt haben muss!“ Nee, stimmt, darüber hatte er noch nie nachgedacht. So eine Lok war für ihn immer nur ein menschenloser Panzer. Groß, schwer, schnell, mächtig und die Fenster hoch und weit entfernt von allem Geschehen.
„Und es geht ja noch weiter: Wir müssen hier alles sichern und bergen, Verletzte versorgen. Anschliessend muss geschaut werden, ob die Gleise noch intakt sind, ob der Zug weiterfahren kann. Die Passagiere müssen versorgt werden. Eventuell verlangen die Entschädigungen für Schaden und Verspätung? Wer soll das alles bezahlen?“
Nun war aber gut, er war doch nicht bei einer Predigt! Er war das Opfer, hatte Schmerzen und brauchte dringend Hilfe. Um das abzukürzen liess er sich gar nicht groß darauf ein sondern gestand: „Ja, jaaa, stimmt. Das war blöd von mir. Nun hol mich hier raus!“
Hätte der Sani einen Indianernamen, dann hiesse er vielleicht Die-Ruhe-weg.
„Ist dir klar, dass die nachfolgenden Züge auch alle Verspätung haben werden? Die können ja nicht einfach weiter fahren! Dort sitzen auch Menschen drin, die zu ihren Familien und Terminen wollen.“
Er dachte, sagte aber nicht: Herrgott, scheiss auf die anderen! Ich hab Schmerzen! Stattdessen sagte er: „Bitte hol mich hier raus, meine Beine tun weh, ich werde mich bei allen entschuldigen…“
Doch die Vorwürfe waren scheinbar noch nicht zu Ende. „Viele von den Leuten werden natürlich wieder auf die Bahn schimpfen, weil sie nicht wissen, dass ein Ignorant wie du für all die Probleme gesorgt hat…“ Hä? Was soll das denn jetzt? Der Sani fuhr fort: „Du musst das mal von der anderen Seite sehen: Glaubst du, die anderen, die nun neue Probleme haben, hätten Mitleid mit dir?“
Im Auto roch man jetzt Benzin. „Riechst du das auch? Hoffentlich gibt es keine Funken! Und ich glaube, an meinem Bein läuft Blut runter! Hol mich hier raus!“
Was der Engel in Weiss nun weiter zum Besten gab, liess ihn so langsam eine Gänsehaut bekommen: „Rein mathematisch, wissenschaftlich betrachtet, wäre es doch für die Gesellschaft besser, Typen wie dich gäbe es gar nicht. Hast du eigentlich Kinder?“
Was soll denn das jetzt? „Nein, ich habe keine Kinder, nicht mal eine Frau…“ weiter konnte er nicht reden, denn ein Strahl von Schmerz durchzuckte gerade sein Bein. Diese Pause nutzte der Sani: „Zumindest Nett von dir, dass du dich nicht vermehrt hast. Erspart uns in Zukunft sicher eine Menge Ärger. Oh, so spät schon, eigentlich Frühstück! Erstmal eine Rauchen.“
Das darf doch nicht wahr sein! Hier lag ein verunglücktes Auto mit einem Schwerverletzten drin, der Rettungswagen fast gleich daneben, und der Sanitäter machte einen auf gewerkschaftlich zugestandene Pause. „He, mach das Feuerzeug aus, hier stinkt es überall nach Benzin!“
Anerkennend nickte der Raucher: „In Chemie kennst du dich aus, was? Wenn leichtentzündliche Stoffe einer extremen Wärmequelle… ach Mist, nun ist mir die Fluppe in dein Fenster gefallen… iih, alles voller Blut, die will ich nicht mehr. Wenn das mal gut geht.“
Entgeistert blickte der ehemalige Rüpel nach oben, oder besser: zum Wagendach, welches ja nun unten war. Da schmorrte sich ein Glimmstengel langsam durch die Verkleidung und machte ein hässliches Loch dort rein. Das zahlt doch keine Versi… nun hörte er folgende Worte:
„Dank deines Kennzeichens haben wir deine Adresse. Wir werden alles Verwertbare aus deiner Wohnung gut vertickern und das Geld nach Abzug aller Unkosten an Opfer weitergeben, die durch Idioten wie dich zu Schaden kamen. Der Rest kommt grob sortiert auf den Müll. Deine Wohnung hinterlassen wir Besenrein und wird vermutlich schnell weitervermietet, du bist ja nicht drin gestorben, sowas macht sich immer schlecht.“
Jetzt sah man, wie ein kleines Rinnsal schillernder Flüssigkeit langsam Richtung Zigarettenbrandloch floss.
„Alter, ich habs verstanden! Nun sieh zu, hol mich hier raus!“
Das Gesicht entfernte sich vom Fenster, man sah Füsse. Endlich, Schluß mit dem Unsinn, er schreitet zur Tat!
„Der Genpool bedankt sich bei dir, dass du keine Nachfahren hast und bei mir, dass das auch so bleibt.“
Wusch. Flammen loderten auf.
Er erkannte noch, wie der Rettungswagen einige Meter weiter weg gefahren wurde, dann hatte er nur noch Zeit, zu schreien.